Erinnerungsfetzen tauchen langsam wie Seifenblasen aus dem Unterbewusstsein auf und lassen sich zögernd in meinem Gehirn nieder. Ich will wissen, wie ich hierher gekommen bin, und versuche, die Seifenblasen zu fangen, springe ihnen in meinen Gedanken entgegen und wenn es mir gelingt, meinen Griff in einer zu verhaken, fühlt sie sich an, wie ein Marshmallow, denke ich bei mir. Langsam kann ich mich daran erinnern, wie ich mit meinem leichten Tagesrucksack in der Felswand hänge und mich behände, wie ich es schon tausendmal gemacht habe, mit sicheren, festen Griffen von einer Felsnase zur nächsten hangele. Ich klettere mit Wut im Bauch, weil mich David versetzt hat. Schon wieder. Natürlich hat David die seit 2 Monaten geplante Klettertour wieder erst am Tag zuvor abgesagt. Das Klettern ist eine gute Methode, Aggressionen und Frustrationen zu verarbeiten, weil es absolute Aufmerksamkeit erfordert. Trotzdem hat sich der Ärger über Davids Anruf in meinem Magen festgefressen und wartet nur darauf, dass er sich bei der nächsten Begegnung lautstark entladen kann. Keine Zeit jetzt dafür. Mit beiden Füßen und der linken Hand bin ich sicher in der Wand verankert. Der nächste Griff ist ziemlich weit weg, ich stehe mit dem linken Fuß auf einem kleinen Vorsprung und mache mich lang, um mit der rechten Hand an die kleine, pilzförmige Erhebung zu gelangen, aber es fehlen ungefähr 10 cm. Die Sonne steht noch nicht allzu hoch, ich bin gut in Form und ausgeruht. Ich strecke mich nochmals ein Stück dem Pilz entgegen und versuche, meinen Schwerpunkt weiter nach oben zu bringen, aber es reicht immer noch nicht. Schon mehrere Minuten hänge ich in der Wand und spüre plötzlich, wie sich ein schweißiger Tropfen den Weg in mein rechtes Auge bahnt. Nun beginnen meine Muskeln zu brennen und langsam mir wird klar, dass nur es nur eine Möglichkeit gibt, um mich aus dieser schwierigen Situation zu bringen, ein „dynamic move“, ein Sprung, bei dem für einen Moment alle Haltepunkte losgelassen werden müssen, um wie eine Katze zum nächsten Halt zu hechten. Es ist ja nicht weit, der Griff ist groß und in der Trainingshalle habe ich diesen Sprung schon einige Male gemacht. Der Umstand, dass ich dabei immer gesichert war, schießt mir nur einen Augenblick durch den Kopf. Ich kann es schaffen, das weiß ich, und es ist ja wirklich nur ein kleines Stück, ich bin durchtrainiert und habe bis hierher immer alles hingekriegt. Es wird klappen. Ich zwinge mich, nicht nach unten zu sehen aber mir ist klar, dass unter mir ungefähr 60 m liegen bis zu der mit Büscheln durchsetzten Wiese, von der ich gestartet bin. Ein riskantes Manöver, natürlich, aber ich habe bisher alles, wirklich alles erreicht was ich mir vornahm und die Option, einfach auf den letzten Sims zurück zu klettern und eine andere Route zu suchen, scheint mir wie das Eingeständnis einer Niederlage. Ich bin kein Verlierer und kein Feigling und ich schaffe diese lächerlichen, paar Zentimeter, da bin ich sicher. Wenn ich DAS am Montag im Büro erzähle, wird es alle unglaublich beeindrucken und meinen Ruf weiter untermauern, ein verdammt harter Hund zu sein und das BIN ich schließlich auch. Langsam werden meine Fingerspitzen taub und mein rechtes Knie beginnt zu zittern. Der Schweiß auf meiner Stirn ist inzwischen ein regelrechter Sturzbach geworden und nun spüre ich zum ersten Mal das Gefühl, das wohl als Angst bezeichnet wird. Ich kannte es bisher nicht, doch es sagt mir, dass ich ein Arschloch bin, wenn ich versuche, zum nächsten Griff zu springen. Sofort ist der Entschluss, hinab zu steigen, getan. Hektisch (Hektik ist gar nicht gut, denke ich noch) suche ich den letzten Tritt unterhalb meines linken Beins, doch ich finde ihn nicht und plötzlich rutschen meine Fingerspitzen ab und ich falle.
Jetzt liege ich hier und es ist ganz still um mich herum. Meine Augen sind geschlossen und ich versuche zu atmen, was mir zunächst nicht gelingt. Ich zwinge mich, gegen den Schmerz in meinem Brustkorb anzugehen und nach einigen, unglaublich schmerzhaften Anläufen gelingt es mir, flach weiter zu atmen. Unvermittelt wird mir übel und ich kotze über den Rand des Felsvorsprungs, auf dem ich gelandet bin. Die Wiese ist immer noch weit unter mir. Ich hatte wohl großes Glück, dass ich auf meinem Rucksack gelandet bin, der den Aufprall etwas abdämpfte, aber als ich meine Beine bewegen will, spüre ich einen Schmerz wie noch nie zuvor in meinem Leben. Als ich nach unten sehe, kann ich meine Knochen sehen, wie sie aus der zerrissenen Strechhose herausragen. Schnell überlege ich, was ich heute Morgen in den Rucksack gepackt habe und erkenne, dass ich zwar ein langes Seil mitgenommen habe, mich mit gebrochenen Beinen aber niemals werde hinunterlassen können. Mein Telefon! Wenn der Typ vom Handyladen keinen Mist erzählt hat, wird es funktionieren. Schließlich sei es das mit dem besten Netz und ich habe immer nur das Beste gehabt! Unter Aufbietung all meiner Kraft überwinde ich den stechenden Schmerz in den Rippen, reiße den Rucksack unter mir vor und öffne das Kalbsledertäschchen. Das Display ist zerbrochen, aber das muss ja noch nichts heißen und mit zittrigen Händen versuche ich, die Notrufnummer zu wählen. Ich höre nichts. Kein Signal, kein Klingeln, nichts. Das Telefon ist hinüber. Schreiend werfe ich das Handy über den Sims in den Abgrund und verfluche David, mich und meinen unseligen Größenwahn! Tränen rinnen aus meinen Augen und mir wird klar, dass mich niemand suchen wird. Während das Blut aus meiner gerissenen Milz sich weiter langsam aber stetig im Bauchraum sammelt, weine ich, traurig über verpasste Gelegenheiten, zerstörte Freundschaften und nicht gezeugte Kinder, über den Tisch gezogene Kunden und all die Lügen, die ich mir und all den anderen mein ganzes Leben lang aufgetischt habe. Ob David die Unregelmäßigkeiten in den Geschäftsbilanzen gleich nächste Woche entdecken wird? Ja, ein hübsches Sümmchen habe ich mir für die alten Tage zurecht gelegt. Ich bin immer noch der Beste …