Natürlich ist es wieder spät geworden! Kleist, mein dumpfbackiger, unfähiger Vorgesetzter hatte mir schon wieder kurz vor Feierabend eine mail geschickt, dass er sämtliche Provisionsaufstellungen der letzten zwei Jahre sowie die kompletten Spesenabrechnungen von Mörike und Holler vom Vorjahr sehen möchte. Und zwar pronto, wenn er bitten dürfte. Kein Wort des Bedauerns, dass er mir um diese Zeit noch mit so einem Ansinnen den Feierabend versaut, kein Dank dass ich zu den 65 aufgelaufenen Überstunden in diesem Monat (unbezahlt natürlich) noch einige mehr draufpacke. Missmutig betrat ich zwei Stunden später sein Eckzimmer mit Aussicht und als ich die verlangten Unterlagen auf seinen glänzenden Schreibtisch legte, blickte er nicht einmal auf.
Jetzt endlich steige ich in den Aufzug, todmüde, mit brennenden Augen und schreienden Kopfschmerzen und denke darüber nach, wann ich das letzte freie Wochenende hatte. Ich muss sehr lange nachdenken, kann mich aber nicht mehr erinnern. Meine Knie krachen beim Laufen als ich in der Tiefgarage ankomme und mein Ischiasnerv macht sich auch wieder bemerkbar. Verdammte Sitzerei! Sport ist für mich schon lange zum Luxusgut geworden und traurig denke ich an die Zeit zurück, als die Squashrunde am Donnerstagabend zum festen Wochenplan gehörte. Wegen meiner immerwährenden Absagen waren die Jungs es wohl leid geworden und hatten sich schon lange nicht mehr gemeldet.
Langsam gehe ich zum Auto. Wegen der Rückenschmerzen werde ich bald etwas unternehmen müssen. Was habe ich nur für ein jämmerliches Leben! Tagsüber 130 %iger Einsatz im Büro, ohne jemals auch nur den unwichtigsten Termin zu vergessen und nachdem die Zentrale der Insuria schon die Absicht eines weiteren Stellenabbaus in den Medien bestätigt hatte, hängt über meiner täglichen Arbeit auch noch das Damoklesschwert einer möglichen „Freistellung“. Karin hat schon vor 3 Jahren mit ihrem Spanischlehrer die Biege gemacht und lebt nun auf einer malerischen Finca auf Fuerteventura. Ich kann ihr das nicht einmal verdenken, war ich in den letzten Jahren immer mehr zum psychotischen Wrack verkommen, das in stetem Rhythmus wöchentlich eine andere Phobie entwickelte. Immerhin das hatte ich inzwischen im Griff. Die Angstattacken waren beinahe weg und mit der Atemnot, die mich in manchen Situationen befiel, konnte ich dank eines immer greifbaren Inhalats gut umgehen.
Ich höre von der rechten Seite ein leises Geräusch und kurz darauf vernehme ich flüsternde Stimmen hinter dem weißen Sharan, der neben meinem Golf geparkt steht. Die Garage ist hier nicht gut beleuchtet und ich bin gerade neben meinem Fahrzeug angekommen, als ich in den Augenwinkeln einen Schatten wahrnehme. Noch bevor ich mich umdrehen kann, werde ich von hinten gepackt und mit eisernem Griff festgehalten, während mir jemand irgendetwas sackartiges über den Kopf zieht und gleichzeitig, so kommt es mir vor, wird ein Klebeband auf meinem Mund fixiert. Schmerzhaft hält jemand meine Hände auf den Rücken gedreht, fummelt an den Gelenken und im nächsten Moment kann ich meine Arme nicht mehr bewegen. Ich höre keine Stimmen, nur das Rascheln von Kleidung und meinen eigenen, stoßweisen Atem, der sich in dem Sack seltsam gedämpft anhört. Unsanft werde ich gepackt und ich bemerke, dass ein Auto heranfährt. Jemand schubst mich in Richtung des nagelnden Diesels, eine Tür wird geöffnet und ich werde auf einen Autositz gedrückt. Es sitzt jemand sitzt neben mir und noch immer hat niemand ein Wort gesagt. Ich versuche verzweifelt, zu schreien, was natürlich nicht gelingt und erst jetzt spüre ich die Panik aufsteigen und im gleichen Moment fährt das Auto los, in gemächlichem Tempo, wie mir scheint und nicht wie im Film, wo das Entführerfahrzeug mit quietschenden Reifen durch die Straßen hetzt. Was soll das? Ich habe kein Geld, das erpresst werden könnte, keine Besitztümer in meinem hypothekenbelasteten Reihenhaus, außer einem Flachbildfernseher aber deswegen wird man nicht entführt. Ich habe keine Feinde, nicht dass mir jetzt bewusst wäre jedenfalls, und fieberhaft durchforste ich mein Gehirn nach einem möglichen Grund für diesen brutalen Überfall. An einen nicht bezahlten Strafzettel denke ich, daran, dass ich im letzten Monat bei Rewe aus Versehen eine Flasche Amaretto nicht bezahlt habe und dass die Rechnung für die letzte Inspektion noch unerledigt in der Schublade liegt …
Ich habe kein Zeitgefühl mehr und höre an den Fahrtgeräuschen, dass wir inzwischen nicht mehr in der Stadt sind, sondern uns auf einer Schnellstraße befinden müssen. Plötzlich höre ich Musik. Simon and Garfunkel, „Sound of silence“ und, daran anschließend “Mrs. Robinsonâ€.
Wir fahren jetzt über einen holprigen Weg, ganz langsam und ich werde hin und her geschaukelt, berühre mit der linken Schulter die neben mir sitzende Person. Schließlich stoppt das Auto, ich werde wieder gepackt und herausgezogen, ich höre, wie Kies unter meinen Schuhen knirscht und an den Geräuschen, dass noch mehrere Personen mit mir gehen.
Links und rechts werde ich gehalten, als wir über zwei Holzstufen offenbar ein Haus erreichen, eine Tür knarrt in den Angeln und nach ungefähr 15 Schritten bleiben wir stehen. An den Schultern werde ich auf einen Stuhl gedrückt und endlich wird mir der stinkende Sack vom Kopf genommen. Jetzt riecht es wie in einer Hühnerbraterei und ich bin in einem Raum mit Holzwänden, es sieht aus wie eine alte Jagdhütte, mit Fleckerlteppichen und bemalten Schränken und gar nicht nach dem Unterschlupf einer bösartigen Verbrecherbande. Die Fensterläden sind geschlossen und der Maskierte, der mir eben den Sack vom Kopf genommen hat geht mit langsamem Schritt zu einer Tür, knipst das Licht aus und geht hinaus. Jetzt ist es wieder völlig still um mich und unter der Tür, durch die der Maskierte gegangen ist fällt ein schmaler Lichtstreifen ins Zimmer. Endlich fasse ich mir ein Herz, stehe auf und entferne vorsichtig das Klebeband von meinem Mund. Ich versuche, ganz leise zu sein und bewege mich in Richtung einer Tür, die im Halbdunkel wie die Eingangstür aussieht. Mit klopfendem Herzen und schrecklicher Angst öffne ich die Tür, bereit, sofort loszusprinten, weg, nur weg hier! In meiner drängenden Vorwärtsbewegung übersehe ich die hoch stehende Bohle in der Tür und falle bauchlängs aus dem Haus. Als ich mich hochrapple, bemerke ich, dass ich nicht mehr allein bin. Etwa 20 Menschen stehen um mich herum, halten sich vor Lachen die Bäuche und fangen an, „Happy Birthday“ zu singen. Am lautesten singt Kleist und Arm in Arm mit meinen Freunden, die ich teilweise seit Jahren nicht mehr gesehen habe, prosten sie mir lachend mit gefüllten Sektgläsern zu. Meinen Geburtstag habe ich nun wirklich vergessen, denke ich noch, als ich ohnmächtig zu Boden sinke.