Eine Reise in die Vergangenheit unternahm ich heute. Meine Eltern hatten meinen Bruder und uns zum Mittagessen in eine Lokalität eingeladen, die in meiner Kindheit mein zweites Zuhause war, in der meine Kommunion gefeiert und in die ich als Braut an meinem Hochzeitstag „entführt“ wurde. Meine Eltern waren Stammgäste in der Kneipe, die vis-a-vis zu unserer damaligen Wohnung lag. Faschingsfest und feierfreudig waren sie früher und viel zu oft durfte ich sie zum „Kappenabend“ oder an Silvester begleiten, wurde mit Mirinda und Salzstängeli auf einen Stuhl gesetzt und beobachtete die immer betrunkener werdende Meute, die ausgelassen und immer mit einem schlüpfrigen Witz auf den Lippen feierte, als ob es das letzte mal wäre. Fast jeden Abend verbrachten meine Eltern dort und sehr gut erinnere ich mich noch daran, wie sie mir „beibrachten“ alleine zu bleiben.
Ich war fünf Jahre, wachte in der Nacht irgendwann auf und es war niemand da. Ich trommelte an die abgeschlossene Wohnungstür (wir hatten damals noch kein Telefon!), bis eine Nachbarin aufmerksam wurde und meine Eltern aus der Kneipe holten. Sie kamen sofort, versohlten meinen kleinen Hintern und ich sehe meine Mutter noch vor mir, wie sie sagt: „Und wir gehen jetzt wieder. Wenn wir wiederkommen und du heulst immer noch, kriegste nochmal.“ Diese Szene sehe ich vor mir, als wäre sie erst gestern passiert, darauf angesprochen meinten meine Eltern, dass das ja gar nicht so war. Jedenfalls blieb ich ab dieser Nacht sehr oft allein zuhause. Mein Vater ist „Bierbrauer“ und als solcher verdammt trinkfest und von massiver Statur und wenn man behauptet, Ehepaare würden sich mit den Jahren immer ähnlicher, trifft dies zumindest für die Alkoholaufnahmefähigkeit meiner Mutter zu. Später, mit ungefähr 12 oder 13, begleitete ich meine Eltern regelmäßig am Wochenende nachmittags in diese Kneipe, frühreif und vorzeitig entwickelt, stolz, dem Kreis der Erwachsenen am Rande zuzugehören. Mit meinem kleinen Bruder wurde ich am frühen Abend heimgeschickt, während meine Eltern sich noch 5 oder 6 „Halbe“ gönnten. Ich sehe auch noch einen „Freund“ meiner Eltern, der während ihrer Abwesenheit angetrunken bei uns klingelte und versuchte, in die Wohnung zu gelangen, indem er sich mit seinem kleinen, gedrungenen Körper gegen die Tür drückte. Ich stemmte mich von innen dagegen, fühlte, wie der Läufer im Gang unter meinen Füßen wegrutschte, der Mann immer weiter in die Wohnung kam, fühlte furchtbare Angst und fing an zu schreien, woraufhin der Mann flüchtete. Inzwischen hatten wir schon Telefon, ich rief meine Eltern an und sie kamen sofort. Mein Vater nahm sich den Mann zur Brust und der Vorfall wurde ansonsten nicht mehr erwähnt. Diesen kleinen Mann kann ich noch heute aus dem Gedächtnis hervorholen, ich weiß noch seinen Namen und wo er mit seiner Familie wohnte.
All das ging mir durch den Kopf, als wir heute in dieser Spelunke saßen, die den fünften Pächter seit dieser Zeit hat. Nichts hat sich verändert, die dunkel getäfelten Wände sind immer noch die gleichen, auch das typische 70er-Jahre-Kneipenmobiliar, die Spielautomaten an den Wänden (natürlich neu, aber an der gleichen Stelle), der Geruch auf dem Weg zu den Toiletten nach Klostein und Küche, es gibt sogar noch die „Gassenschänke“, eine Durchreiche mit Türchen zur Straße, wo noch heute Eis und Flaschenbier verkauft werden.
Der aktuelle Wirt ist ein Inder im Hawaiihemd, der sein Lokal „Pizzeria Denny“ nennt und der mit seiner, einen Sari tragenden Frau neben italienischem auch indisches und mexikanisches Essen anbietet. Eine Totgeburt ist dieses neu eröffnete Lokal schon jetzt, niemand, der auch nur einen Funken Atmosphäre bei der Nahrungsaufnahme möchte, zieht einen Besuch dort ernsthaft in Erwägung. Es riecht immer noch nach Frittierfett und Rauch, genau der Geruch, der meinen Eltern früher anhaftete, wenn sie kichernd und schwankend heimkamen.
Meine Eltern, insbesondere meine Mutter, haben mich und meinen Bruder aber, von einigen lässlichen Ausrutschern, die allen Eltern unterlaufen, immer gut und liebevoll erzogen. Meine Mutter verschwieg meinem Vater die schlechten Noten und ließ mich am Sonntag bis mittags schlafen. Ich musste nie im Haushalt helfen, wurde aber zum Babysitter für meinen Bruder zwangsverpflichtet, dem ich, so kommt es mir heute vor, öfter das Fläschchen gab als meine Mutter. Vielleicht liebe ich ihn deshalb heute so.
Der kleine Mann, der mich damals in unserer Wohnung so bedrängte, ist vor ein paar Jahren gestorben, aber auch Zwerge können lange Schatten werfen.
Euch eine friedliche Nacht wünscht
moggadodde