Mit einem Sprint versuchte ich, den Aufzug zu erreichen, aber als ich dort ankam, war die Tür bereits bis auf wenige Zentimeter geschlossen und ich wagte nicht, meine Hand in den immer schmaler werdenden Spalt zu schieben. Ich blieb also seufzend stehen und drückte erneut den Aufwärts-Knopf. Von hinten näherte sich ein Mann, der lachend sagte, dass der nächste ICE bestimmt gleich käme und ich erwiderte, ich wäre jetzt schon oft hier mit den Aufzügen gefahren und bei diesen beiden vor uns handele es sich hundertprozentig eher um Bummelzüge. Ich spürte, wie er mich musterte und fühlte mich leicht unbehaglich, als wir beide endlich in die leere, winzige, Metallkabine, nicht größer als 3 qm, einsteigen konnten. Ich drückte mich an die hintere Wand und wischte mir einige imaginäre Fussel vom Ärmel um seinem intensiven Blick auszuweichen.
Vor einigen Jahren noch hätte ich seinen Blick provokativ erwidert und vielleicht flapsig gefragt, ob er ein Passbild von mir wollte, aber schon seit einiger Zeit verspürte ich keine Lust mehr auf solche Kindereien. Ich fühlte mich unattraktiv und müde. Klein gemacht hatten mich immer und immer wieder die falschen Männer, die auch ich offenbar magisch anzog und der verhasste Broterwerb. Mehr brauchte es nicht, um mich unglücklich werden zu lassen.
Irgendetwas an den Mann machte mich, die ich sonst anderen Menschen eher offen und zu unbedarft gegenübertrete, befangen. Er schaute mich noch immer unverwandt an und ich hoffte, dass sich schnell die Tür öffnen würde und ich dem glänzenden Gefängnis entsteigen konnte. Eine Chance, dass er vorher ausstieg, bestand nicht. Er hatte keine andere Etage gewählt, als ich den Knopf für den 9. Stock gedrückt hatte. „Sie sind ein schönes Weib“, sagte er plötzlich und zuerst meinte ich mich verhört zu haben; mit allerlei Titeln wurde ich schon bedacht, aber „schönes Weib“ war neu in der Kollektion. Jetzt wurde mir warm und ich schaute ihn an und versuchte krampfhaft, das Gesagte einzusortieren. Wollte er mich anmachen? Er war nicht mehr sehr jung, aber das bin ich schließlich auch nicht, und er hatte eines dieser lächerlichen Tücher um den Hals gebunden, bordeauxrot mit kleinen, grauen Karos, das manche Männer gern tragen, aber ich verbinde diese Aufmachung stets mit einem Gigolo, der in einem Spielcasino nach reichen, unglücklichen Witwen Ausschau hält.
Jetzt sah ich ihn wohl etwas ungläubig an, denn er schob hinterher: „Doch, ich finde wirklich, sie sind sehr schön.“ Fest hielt ich den Riemen meiner Tasche in der Hand und dachte daran, dass es für ihn ganz leicht wäre, mich mit einem Schlag außer Gefecht zu setzen. Bis ich im Ernstfall in den Tiefen der großen Tasche das Spray gefunden haben würde, das ich mir für gefährliche Situationen vor langem einmal besorgt hatte, würde es viel zu lange dauern und ich bezweifelte, dass es überhaupt noch wirksam war, denn ich hatte es bisher noch nie gebraucht. Bemüht, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen, log ich: „Ach, das ist aber nett von Ihnen. Sie sind heute schon der Vierte, der das sagt, wissen Sie?“ und jetzt lachte er wieder und erwiderte: „Das glaube ich Ihnen aufs Wort und ich darf Ihnen versichern, dass ich es, wie die anderen bestimmt auch, absolut aufrichtig meinte!“ In seinem sicher ehrlichen Lachen meinte ich zu erkennen, dass er mir nichts Böses wollte. Himmel, da machte ein freundlicher und sehr ansehnlicher Mann eine bewundernde Bemerkung und ich müsste eigentlich vor ihm auf die Knie fallen, denn mit solch einem umfassenden Kompliment wurde ich nicht jeden Tag versehen, genauer gesagt war dies schon sehr lange nicht mehr der Fall. Ganz genau gesagt, herrschte in der letzten Zeit in der Komplimenteabteilung eher trostloseste Ödnis und ich konnte mich nicht mal mehr erinnern, wann jemand zuletzt etwas richtig Nettes zu mir gesagt hatte.
Der Fahrstuhl machte ein ächzendes Geräusch, ruckelte und blieb schließlich stehen. Ich wusste, dass das irgendwann passieren würde, die Aufzüge in diesem großen Gebäude waren alt und verfügten noch nicht einmal über einen Notrufknopf und mit einem Schlag hatte ich wieder Angst, nun aber nicht, weil ich mit dem Mann hier gefangen war, sondern weil ich befürchtete, zu spät zu meinem Termin zu kommen. Meine Agentur hatte mir schon gesagt, dass der neue Auftraggeber ein Mann mit eher konservativer Einstellung wäre, der ein verspätetes Erscheinen ganz sicher nicht billigen würde. „Nicht schon wieder!“ stöhnte mein Gegenüber und fügte schnell hinzu: „Obwohl ich mir in genau dieser Situation keine angenehmere Gesellschaft wünschen könnte.“ Er trat einen Schritt näher, ohne den Blick abzuwenden und weil die Kabine so eng war, stand er jetzt sehr dicht vor mir. Ich roch seinen Atem, der mich an irgendein Kaugummi erinnerte, und sein Gesicht kam meinem immer näher, so nah, dass sich fast unsere Nasenspitzen berührten. Ich merkte, dass mein Rücken jetzt nicht mehr an der metallenen Wand lehnte, sondern ich mich dem Gesicht des Fremden langsam und fast unmerklich annäherte. Er hob die Arme und ich hörte das Rascheln des Anzugstoffs, spürte wie er meinen Kopf in seine großen, kühlen Hände nahm und mit den Daumen über meine Schläfen strich. Mit einem lauten Quietschen und einem harten Ruck setzte sich die Kabine unvermittelt wieder in Bewegung, doch wir blieben darin unbewegt stehen, auch als sich die Tür im 9. Stockwerk leise öffnete. Der Mann nahm eine Hand von meinem Kopf, drehte sich halb herum und drückte den rot beleuchteten Knopf mit der Aufschrift „EG“. Unmittelbar, als sich die Aufzugtür erneut geschlossen hatte, drückte der Fremde auf einen anderen Knopf des Tableaus, aber ich konnte nicht sehen, was darauf stand. Sofort hielt die Aufzugkabine wieder an und ich wusste nun, dass er den Nothalt aktiviert hatte. Immer noch stand ich unbeweglich an der Wand, als der Mann sich mir wieder zuwandte und erneut nah und näher kam. Ich dachte an Dirk, der mich „frigides Altmetall“ genannt hatte, ich dachte an die Agentur und dass sie mich morgen feuern würden, aber ich sah gleichzeitig einem Mann in die Augen, der fand, ich sei ein „schönes Weib“. Archaisch war dieses Wort und ursprünglich, deshalb war es für mich nicht derb; ich fand es schmeichelhaft. Als er seinen Mund auf meinen presste und seine jetzt nicht mehr kalten Hände plötzlich überall zu haben schien, dachte ich nicht einmal einen winzigen Augenblick an Gegenwehr. Ich krallte mich im Stoff seines anthrazitfarbenen Sakkos fest und als er mir behände meine Leinenbluse über die Schultern zog, brachen alle Dämme und ich ließ mich fallen, tief, tiefer, rasend schnell, unendlich, unergründlich.
Es war hell, als ich erwachte. Durch die offene Aufzugtür schien das Licht von draußen. Ich sah, wie der Staub in den Sonnenstrahlen schwebte und versuchte mich zu erinnern, wie ich hierher gekommen war. Das Gebäude und den Aufzug kannte ich. Schon oft war ich hier, ach ja, die Agentur, im 9. Stock sollte ich einen neuen Kunden treffen. Ich muss ohnmächtig geworden sein, mein Kreislauf hatte sicher wieder verrückt gespielt und mich nicht zum ersten Mal unvermittelt von den Beinen gerissen. Ich fühlte mich gut, wie nach langem Schlaf und stand schnell auf, streckte mich ausgiebig; was immer diese Ohnmacht verursacht hatte, es hatte mir seltsamerweise gut getan. Ich fühlte mich satt und fühlte eine riesige Energie in mir, eine Kraft, die mir fremd war. Allmählich tropften Worte in mein Bewusstsein: Vollweib plopp Rasseweib plopp Weiblichkeit plopp Teufelsweib plopp Weibsbild – und jetzt musste ich lachen, „Weibsbild“ warum kam mir ein so alter Begriff in den Sinn? Kein Mensch sagte das heute noch … Ich bückte mich, nahm meine Tasche und wollte gehen, hinaus in die warme Sonne, als mein Blick auf einen weinrotes Stück Stoff fiel, das unter meiner Tasche gelegen haben musste. Bordeauxrot, so war wohl die richtige Farbbezeichnung, mit grauen Karos, ein Halstuch und ich hielt es unter meine Nase, irgendwie erinnerte mich der Geruch an etwas, irgendein Kaugummi, der einen besonders starken Geschmack, jetzt fiel es mir wieder ein … Juicy Fruit. Das Halstuch roch nach Juicy Fruit. Ich steckte es ein Stück weit in irgendeinen Briefkasten und trat aus der schweren, alten Haustür. Als ich an einem Schaufenster vorbeiging, sah ich mein Spiegelbild und dachte lächelnd daran, was für ein schönes Weib ich doch bin.