Eigentlich bin ich in nachbarschaftlichen Belangen ein hilfsbereiter Mensch. Ich vergebe jederzeit Zitronen, Eier, Kaffeefilter und Zucker und die Ankündigung „Ich besorg’s dir wieder!“ beantworte ich meist mit einem beiläufigen „Lass stecken!“, denn wenn ich wieder mal keine Milch im Haus habe, weiß ich ja, an wen ich mich wenden kann. Das sind ja auch alles Peanuts, wie man so sagt.
Heute nun klingelte Silvio an der Tür. Silvio heißt natürlich nicht Silvio aber so ähnlich. Mit Silvios Ansichten z.B. Ausländern im Allgemeinen und Italienern im Speziellen konnten der MamS und ich ebenso wenig konform gehen wie mit seiner despektierlichen Meinung zu Homosexuellen, der Verehrung der Republikanischen Partei und der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Letztere gehöre nach seiner Meinung wahlweise ins Bett oder vor den Herd, je nach Bedarf. Er ist die Vorlage für das geringschätzige Bild, das das yellow-impressed und uninformierte Ausland vom deutschen (M)Neckermann hat: Verbissen-biestig-spießig, pausenlos mit der Bierflasche einheimischer Provenzienz in der Hand und mit einem Horizont ausgestattet, der die Ausmaße seines akkurat gepflegten Kleingartens nicht überschreitet.
Nach einem Streit vor einigen Jahren, im Laufe dessen der MamS die von Silvio vergötterten Zillertaler Schürzenjäger als ranzige Bierzeltcombo bezeichnet hatte, drohte Silvio, ihm eine „aufs Maul“ zu hauen und warf sich zur Verdeutlichung seiner Absicht quer über den Tisch. Der Umsicht und ohnehin ewigen Nüchternheit des MamS ist es zu verdanken, dass die Situation dereinst nicht eskalierte und der gnomengroße Silvio selbst keine Trümmerfraktur seiner ohnehin hässlichen Nase davontrug. Wie der MamS später berichtete, hätte er nämlich zu gerne Silvios besoffenen Zinken an die Innenseite von dessen hinterer Schädelwand katapultiert, aber er wisse sich ja zu benehmen. In der Folgezeit beschränkte sich der Kontakt wechselweise auf höflichkeitsschuldiges Grüßen oder uninteressierter Ignoranz, je nach Befindlichkeit der Beteiligten.
Einige Schicksalsschläge beruflicher Natur bewirkten allerdings, dass Silvio nun eine etwas dezidiertere Meinung zu oben genannten Diskussionsthemen vertritt. Seine letzte Jobchance in der Krankenhausküche verlangte es nämlich, dass er sich mit Mitarbeitern aus aller Herren Länder verträgt und im Laufe der letzten beiden Jahre konnte er erkennen, dass es sich auch bei tunesischen Hilfsköchen und kongolesischen Spülerinnen um ganz nette Menschen handeln kann. Über Schwule und die Republikaner habe ich zwar nie mehr mit ihm gesprochen, aber wegen des Umstandes, dass aus seiner Wohnung seit einiger Zeit des öfteren AC/DC-Klänge schallen hege ich Hoffnung, dass er auch zu diesen Themen seine Meinung überdacht hat und er sich möglicherweise sogar auf dem Weg der Läuterung befinden könnte.
Mit der Frau an seiner Seite verstehe ich mich indessen recht gut. Öfter trinken wir einen Kaffee zusammen oder eine Flasche sprudeligen Spumantes und sie verdrehte wegen seiner Engstirnigkeit oft die Augen. Nicht zuletzt wegen einer kleinen Ehekrise, in deren Verlauf sie ihm endlich einmal zeigte, wo der Frosch die Locken hat, wurde er zunehmend sozialverträglich, weshalb sich doch das eine oder andere oberflächliche Gespräch über Fußballergebnisse, das Wetter oder die Spritpreise ergab. Ich bin ja schließlich kein Unmensch und denke, nicht alle aber manche haben eine zweite Chance verdient.
Silvio klingelte also heute und fragte kleinlaut, ob einer von uns ihn morgen früh fahren könnte. Er wolle mit einem Fanclub nach München zum Bayernspiel und deshalb müsse er um 7.45 Uhr an der Abholstation in 20 km Entfernung sein. Ohne den MamS zu fragen wusste ich, dass er ihn zu dieser für einen Samstag nachtschlafenden Zeit nicht fahren würde, Fußballfan hin oder her.
„Nein“ zu sagen, fällt mir normalerweise ziemlich schwer. Lieber nehme ich zähneknirschend etwas auf mich und verfluche mich im Nachhinein, als den anderen enttäuschen zu müssen und wer weiß, vielleicht brauche ich ja selbst einmal Hilfe oder eine Mitfahrgelegenheit. Deshalb konnte ich diese Bitte auch diesmal nicht ad hoc ablehnen und bot mir zumindest eine Bedenkzeit aus. Mein Samstagsvormittagsausschlafritus ist zwar ein fast unumstößliches Gesetz, aber für bestimmte Notfälle würde ich natürlich eine Ausnahme machen. Weil wir uns im letzten halben Jahr in relativ normalem, nachbarschaftlichem Kontakt befanden, ließ ich mir die Sache immerhin durch den Kopf gehen, aber ich war unglaublich stolz auf mich, als ich ihm später verkündete, dass mir sein Ansinnen für einen Samstag einfach zu früh wäre. Die ganze Woche sei ich früher als früh aufgestanden, da würde ich am Samstag doch gerne mal bis nach halb 9 in der Kiste verbringen, weshalb er sich leider anderweitig orientieren müsse.
Er schluckte zwar, war aber zuversichtlich, bei einem anderen Nachbarn erfolgreich zu sein, was schließlich auch geklappt hat.
Es fällt mir zwar immer noch unheimlich schwer, aber ich bin, wie Silvio auf seine Art, auf einem guten Weg der Läuterung. „Nein“ zu sagen, wenn es nicht in den Kram passt, „Nein“ zu sagen, wenn mir nicht nach Zustimmung ist und nur um des lieben Friedens willen „Ja“ zu sagen, auch das ist für einen Harmoniejunkie wie ich es bin ein Prozess, der bewältigt werden will. Silvio hat mir eine gute Übungseinheit beschert.
Ich habe den festen Vorsatz, dass ich in Zukunft öfter „Nein“ sagen werde, wenn meine Vernunft und mein Willen mich auf die einzig richtige Route bringen wollen, auch wenn die dumme Kuh Erika Eintracht meint, ich müsse etwas tun, worauf ich eigentlich gar keine Lust habe. „Nein“ sagen ist vielleicht doch auch eine Kunst, die erst erlernt werden will wie die preußischen Tugenden.
Auch wenn man der Kirche selbst nicht sehr viel abgewinnen kann, der biblische Ausspruch „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist hier ein sehr treffender Analogismus. Ich selbst schätze mich und meine Bedürfnisse nämlich schon sehr hoch, deshalb werde ich den Teufel tun und Silvio morgen zu seiner Busstation bringen. Irgendwann ist die Zeit eben reif für einen „Nein“anfang.
Euch eine ehrliche Nacht wünscht
moggadodde
Jaja, das mit dem Nein verstehe ich nur zu gut.
Aber der „Samstagsvormittagsausschlafritus“ hat es mir angetan! Assoziiere ich sofort „Fritten“, also Pommes, und bekomme mächtigen Appetit. Das gegen 3 Uhr morgens wird allerdings wieder zu einem Problem ganz anderer Art – obschon (komplementär eher hässlich zu obwohl), also obwohl sich die Ingredienzien alle samt im Hause, will sagen, im Gefrierschrank befinden… hachja, herrje, das mit dem Gewissen und dem Ãœbergewicht, da sollten wir auch mal drüber sprechen…
wir sollten des öfteren wieder nein sagen, da gebe ich dir recht und verweise, wenn auch zusammenhanglos, auf das leider fast vergessene gedicht des wolfgang borchert mit dem titel ’sag nein‘. schönes we…
Gut gemacht Kollegin! Ja, das Nein-Sagen, schwieriger als eine Expedition zum Mount Everest oder Bungee-Jumping oder so…
Und weiter so! ich bin sehr stolz auf dich…
@ Georg: Fritten früh um drei? Na, das ist natürlich ein böses Vergehen. Ein gewisses Ãœbergewicht ist zwar auch nicht der Bringer, aber ein übergewichtiges Gewissen ist schlimm. Wenn du trainieren könntest, dein Gewissen statt deines Gewichts abzuspecken, könntest du Pommes auch um drei Uhr früh noch essen, was dein Ãœbergewicht verstärkt aber dein Gewissen nicht mehr kümmert. Oder so. Kannst du mir folgen? Nein? Ich auch nicht … 😉
@ markus: Da habe ich was gelernt von dir; den Namen Borchert hatte ich noch nie gehört. Interessante, aber ziemlich traurige Vita …
@ morgiane: Mir fällt das wirklich oft nicht leicht, aber Ãœbung macht den Meister! Eine ordentliche Prise gesunder Egoismus ist doch wirklich nichts Verwerfliches. Ich übertreib’s ja auch nicht 😉
kannst du mal sehen, selbst von mir kann man was lernen. 😉 mir ist da aber ein fehler unterlaufen. das gedicht heißt ‚dann gibt es nur eins!’…
@ markus: „Am Abend wird man klug für den vergang’nen Tag, doch niemals klug genug für den, der kommen mag.“
Das ist leider von Friedrich Rückert und nicht von mir. Trotzdem isses gut 😉