Würde man unsere obligatorischen Zweimonatsvisiten bei meiner Oma Gertie mit versteckter Kamera aufnehmen, würde das eine astreine Alterssoap geben, die „Wirr aber wahr“ oder „Grandma Gertie’s getting mad“ getauft werden könnte. Alt zu sein ist sicher kein Zuckerschlecken, wenn aber das Oberstübchen bei ansonsten noch rüstiger, körperlicher Gesundheit anfängt zu zicken, ist das ziemlich tragisch, vor allem für die anderen.
Die Oma bewohnt noch zwei Zimmer in ihrem großen Haus und „kann nimmer so gut merken“, wie sie selbst kummervoll feststellt. Vielleicht hat unsere Gruppe, bestehend aus meiner Mutter, Brüderchen, meinen Kindern und mir auch ihr sicher schon ein bisschen poröses Gehirn überfordert, jedenfalls wusste sie nicht so recht Bescheid über ihren Besuch.
„Wer bist denn du?“, fragte sie Dixie. „Ich bin deine Urenkelin, die Dixie“, sagte diese und die Oma zeigte auf Hank und stellte fest: „Ach, und das ist dein Sohn, gell?“
„Nee, Oma, das ist ist ihr Bruder, der Hank und die beiden sind meine Kinder“, fasste ich zusammen. „Ach, ich kann nimmer so gut merken“, lamentierte sie. „Macht ja nix, Oma“, versicherte ich. „Und du, du wohnst noch bei deinen Eltern, oder?“ fragte sie, an meinen 35jährigen Bruder gewandt. „Hast du schon einen Freund?“, fragte sie mich jetzt und bevor ich antworten konnte, fiel mir meine Mutter ins Wort: „Ach Mutter, die Mogga ist doch schon lange verheiratet mit dem MaiS!“
„Kenn‘ ich den?“, fragte sie jetzt und wir bejahten. „Ach, ich kann halt nimmer so merk‘!“, sagte sie jetzt deprimiert und hatte Recht. Im Laufe unseres zweistündigen Besuchs vergaß sie immer wieder die familiären Zusammenhänge, Namen und auch, dass ihr Sohn, mein Vater, bereits im vorletzten Jahr gestorben ist.
Sie ärgerte sich über ihre im Nebenhaus lebende Tochter und deren vielköpfige Kinderschar, die die Oma ein wenig als pausenlos geöffnete Sparkasse betrachten und sogar für die Fahrt zum Friedhof in 500 m Entfernung einen monetären Obolus erwarten. Und das Geld, das sie in zwei Umschläge gesteckt und im Schlafzimmer versteckt habe, wäre auch verschwunden. Sie führte uns alle dorthin und kramte zwischen Frotteetüchern und Baumwollschlüpfern vergeblich nach dem Geld, von dem sie genau wisse, dass sie es hier versteckt habe.
In ihrem Haus reißen die anderen Enkel die „gliedguten“ Fenster raus, werfen ihre teuer gekauften Vorhänge und Matratzen auf den Müll und komplettrenovieren das Haus, das sie zwar erben werden aber eben erst „werden“, denn noch lebt die Oma und ihr blutet das Herz, wenn sie zuschauen muss, wie das Zeug, das für andere alter Plunder aber für sie eben ihr Eigentum ist und noch tiptop in Ordnung, auf den Schutt gefahren wird.
Ich stelle es mir schrecklich grausam vor, wenn man tatenlos zuschauen muss, wie die Angehörigen im Haus schon so tun, als wäre man gar nicht mehr da, wie sie keine Rücksicht nehmen auf Sachen, an denen man hängt, weil man sie kurz nach dem Krieg, als man sowieso nichts hatte, irgendwo gekauft oder für das man gespart hat und dann kommen die eilfertigen Verwandten, okkupieren wie selbstverständlich das Haus und werfen alles weg, was einem lieb und teuer ist.
Natürlich ist das alles altes Gerümpel und kein Mensch wollte auf Matratzen schlafen, auf denen zu Kaiser-Wilhelm-Zeiten schon Kinder gezeugt wurden. Klar wurde sie gefragt, ob sie mit dem Umbau einverstanden ist. Welche Oma würde „nein“ sagen! Aber es wäre vielleicht doch taktvoller, mit dem Ausräumen des Hauses zu warten, bis die alte Frau die Augen endgültig schließt.
Zum Schluss holte die Oma ihre Mundharmonika aus dem Schlafzimmerschrank und blies das lustige Zigeunerleben und andere Ständchen und schimpfte über ihr Gebiss, das sich beim Spielen ständig im ihrem Mund löste und geräuschvoll ans Metall klackerte.
Manche Alleinunterhalter spielen schlechter mit dem Keyboard als meine Oma auf der Mundharmonika. Sie kniff konzentriert die Augen zusammen, legte den Kopf zur Seite und wippte genau im Takt mit dem Fuß. Ich muss sogar sagen, dass meine Oma in ihrem Fuß mehr Taktgefühl besitzt als andere Leute im ganzen Körper.
Euch einen rhythmischen Tag wünscht
moggadodde