Die Zellerau, das Viertel, in dem ich aufwuchs, hatte zu meiner Kindheit einen üblen Ruf. Obwohl ich im „besseren“ Teil oberhalb der Frankfurter Straße wohnte, die die imaginäre Grenze zwischen den Bereichen „Schau niemanden schief an, dann überlebst du“ und „Geh da bloß nicht ohne Messer hin!“ bildete, sorgte meine Herkunft bei Mitschülern für eine Mischung aus hochgezogenen Augenbrauen und Ehrfurcht. Ich wuchs im „Dencklerblock“ auf, einer in der ganzen Stadt bekannten Wohnanlage mit riesigem Innenhof, die schon zu meiner Jugend ihre besten Zeiten seit Jahrzehnten hinter sich hatte. Genauer gesagt sind es zwei identische, jeweils einen Hof umschließende Bauten. Ich wohnte im unteren Block. „Die“ im oberen Block wurden ignoriert; man munkelte, dass dort eine minimal bessere Gesellschaft wohnte und mit denen wollten wir uns gar nicht erst abgeben. Schließlich hatten wir einen schlechten Ruf zu verlieren.
Geheizt wurde mit Ölöfen, ein Waschbecken bastelte mein Vater erst später irgendwann ins Bad, weil es Zähnen schließlich ja egal ist, ob sie über einem Waschbecken oder einer Badewanne geputzt werden. Möbel gab es auch für uns Kinder selten neu, gern übernahmen meine Eltern das abgelegte Mobiliar von Freunden oder Kollegen, obwohl sie das eine oder andere sicher auch neu hätten kaufen können. Die „gliedguten“ Stücke, wie mein Vater betonte, taten denn auch noch viele Jahre ihren Dienst bei uns. Meine Eltern waren so gesehen Second Hand-Pioniere, noch bevor das Wort „Nachhaltigkeit“ überhaupt erfunden wurde. Die Wohnung war riesig und mein Vater war innerhalb von 3 Minuten in der benachbarten Brauerei, wo er im Keller hingebungsvoll das Bier für die ganze Stadt zum Gären brachte.
Der Dencklerblock war schon damals ein Kosmos für sich. Die meisten Bewohner waren Arbeiter und langjährige Mieter, deshalb kannte jeder jeden und es gab niemals Streit. Der riesige Innenhof mit dem gigantischen Nussbaum in der Mitte war für uns Kinder Treffpunkt und alle kannten das spezielle Fleckchen, an dem man sich aufhalten musste, um für allerlei Heimlichkeiten außerhalb des Blickwinkels der Eltern zu sein. Trotzdem ich von Mitschülern bei Nennung des Wortes „Dencklerblock“ umgehend als arm abgestempelt wurde, mochte ich meine Kindheit und Jugend dort über alle Maßen. Arm war ich nicht und ich wusste das. Ich hatte viele Freunde, eine Mutter, die meinen Vater wegen schlechter Noten anflunkerte, uns auch sonst immer in Schutz nahm, sonntags erst zum Mittagessen weckte und nie zum Abspülen rief. Ich war stolz, im Denckler zu wohnen, als eine Mischung aus Outlaw und Suzie Quatro, auch wenn ich statt Leder die Palominos von C&A trug.
Nun war ich heute also mal wieder in der Gegend und hatte Zeit, durch den Hof zu streifen. Mussten wir damals Ordnung halten, ist der Hof inzwischen buntchaotische, zweite Heimat der vielen WGs und der eher dem alternativen Leben zugeneigten Bewohner.
Manche sagen, es sei heruntergekommen, aber das ist egal. Die Leute fühlen sich wohl da, feiern sagenumwobene Partys und sind stolz, ein Zimmer im legendären Dencklerblock ergattert zu haben, wo man sich einst auflehnte gegen Spekulanten und sonstiges Geldhabegesocks, das den Denckler gewinnmaximierend und minimalinvestierend ruinieren wollte. Ehe dies passierte, zogen meine Eltern aus und weil ich schon alt genug war und ohnehin nicht mehr lange im Familienverband, bezog ich meine erste, eigene Wohnung. Auch in der Zellerau. Selbstredend (dass später das Büro der Hausverwaltung wegen der zu erwartenden, hohen Mieten mutmaßlich durch durch Dencklerbewohner verwüstet wurde, bekam ich gar nicht mehr mit).
Als ich heute vor unserer alten Wohnung stand, öffnete der Bewohner plötzlich die Tür und fragte, ob er mir helfen könnte. Ich erzählte, dass ich genau hier groß geworden bin und er bat mich hinein. Hui! Jetzt war ich aufgeregt! Seit meiner Jugend war ich nicht mehr hier! Ich betrat den 8 m langen Flur, in dem der MamS meinen kleinen, eifersüchtigen Bruder mit Fußballspielen milde stimmen wollte und ging zuerst in „mein“ Zimmer, das ich sofort komplett eingerichtet vor mir sah. Rechts das Bett, in dem ich oft zusammen mit dem MamS nach dem Klackern der High Heels meiner Mutter auf dem Gehsteig lauschte, damit wir uns rechtzeitig in Klamotten und schickliche Position bringen konnten. Den Schrank zur Linken mit der Aufklapptür, die ich immer vorsichtig öffnen musste, damit die lidschäftigen Befestigungen nicht noch weiter ausbrachen. Der Starschnitt von „The Sweet“ und der als Schultasche fungierende Jutebeutel an der Türklinke.
Ich ging von Zimmer zu Zimmer. Das Wohnzimmer mit den Tapeten in geometrischem Muster, deren Style nun „retro“ genannt wird. Das Zimmer meines Bruders, das schönste und hellste in der gesamten Wohnung und mit der Verbindungstür ins Elternschlafzimmer, wo ich im Kleiderschrank nach den Weihnachtsgeschenken stöberte. Die Küche, von der ich oft wehmütig nach draußen schaute, weil ich entweder wegen Hausarrests die Wohnung nicht mehr verlassen durfte oder weil ich wieder Babysitter für meinen Bruder sein musste, weil unsere Eltern im „Kleinen Hofbräu“ die von Vater produzierten Hopfenblütenschöpfungen verköstigten, was zu einer Zeit, in der ich gestorben wäre für eine Verabredung mit John Travolta, an Härte nicht zu überbieten war.
Ich konnte den Tanz aus Saturday Night Fever perfekt und wir alle boten ihn mit Feuereifer dar, auch die Jungs und sogar Uwe, der mich immer drangsalierte. Wenn er mit mir anbandeln wollte, hatte er jedenfalls eine sehr robuste Art, mir das zu zeigen. Durfte ich nicht mehr nach draußen, kam die Meute halt zu mir ans Küchenfenster, wir drehten die Musik auf und ich tanzte durch die Küche, die anderen mir gegenüber. Birgit, meine damals beste Freundin, war stets dabei und, wenn ich an verbotenen Orten war, immer für ein Alibi gut.
Im Bad war der Flashback vollendet.
Weder Boden- noch Wandfliesen waren in 35 Jahren verändert worden und auch das Waschbecken war dasselbe, das mein Vater damals angebracht hatte. Als ich meinem Bruder das Foto schickte, wusste er sofort, wo ich war, obwohl er erst 10 Jahre alt war, als wir dort auszogen.
Ich dürfe immer wieder kommen, wenn mir danach sei, sagte der freundliche Bewohner, der auch schon als Student dort eingezogen war, nun seine Büroräume in unserer alten Wohnung hat und offenkundig ebenfalls große Zuneigung zum Dencklerblock hegt. Mittlerweile gibt es neumodisches Zeug wie Zentralheizung und dichte Fenster, aber ansonsten ist alles unverändert. Und wenn ich meinem Vater das Foto zeigen könnte, würde er sich freuen und sagen „Siehst, die Fliesen im Bad sind immer noch gliedgut!“
Wehmütig
moggadodde
So. Schöne. Geschichte.
Danke, Ralf! So unternahm ich eine Reise, mitten im Lockdown!
Das war schön zu lesen….meine Erinnerung ist noch lange davor, gleich nach dem Angriff auf Würzburg bezogen wir im „Dencklerblock“ eine Wohnung in der Scherenbergstr.3 im obersten Stock – zusammen mit einer weiteren Familie: Wir (Vater kam erst später zurück),Mutter und 3 Kinder – die andere Familie Eltern und 2 Kinder. Ich war die Jüngste und alle Kinder spielten im Hof, die Großen passten auf die Kleinen auf – der Hausmeister war sehr streng, wir durften keine Nüsse „ernten“ (was die Größeren aber trotzdem machten), an den Stangen (für Wäsche) durfte nicht geturnt werden, der Rasen nicht betreten werden.Als ich auch größer wurde, spielten wir mit Murmeln, malten uns um den Sandkasten herum Wohnungen mit Zimmern auf den sandigen Boden und besuchten uns gegenseitig…spielten „Blinde Kuh“, ich lernte fussballspielen und draussen auf der Scherenbergstrasse Hockey mit Spazierstöcken unserer Väter. Der obere Block samt Bewohner war Feindesland und die größeren Jungen lieferten sich auch einige Schlägereien. Am Torbogeneingang von der Frankfurter Str. war rechts eine Drogerie und links ein Gemüseladen.Sonntags schauten mein Bruder mit seinen Freunden von unserem Wohnzimmerfenster mit einem Fernglas den Fussballspielen auf dem heutigen DJK Sportplatz zu. Wir wohnten dort bis 1955 – eine herrliche Zeit.
Dann sind wir uns dort nie begegnet, wir kamen ja erst viel später in den Denckler. Ja, so war es. Ordnung war wichtig und um den Rasen wurde folgsam ein Bogen gemacht. Der Sandboden um die Kästen eignete sich auch hervorragend zum Federballspielen, weil man im Kampf dem Ball mehr oder weniger sportlich hinterherrutschen konnte. Wir spielten aber auch oft nur auf „Zusammenbringen“, ich glaube sogar, aus der Scherenbergstraße 3 war da ein richtiges As am Start. Und am Nachmittag war immer großes Hallo und Leben im Geviert.
An den Gemüseladen meine ich mich dunkel erinnern zu können, bin aber nicht sicher, ob ich das nicht verwechsle. Rechts vom Torbogen Frankfurter Straße war später eine Eisdiele, in der wir uns oft Abkühlung holten. Für die richtigen Eisbecher im Salon selbst reichte das Taschengeld selten.
Ein paar Namen schwirren noch im Kopf herum aus der Scherenbergstraße 3, aber ich glaube fast, die Familien zogen erst später ein.
Es freut mich wirklich sehr, dass ich so viele gute Erinnerungen wecken konnte!
Ganz großes Kino, Frau Moggadodde! Gefällt mir sehr gut, die Geschichte zieht einen richtig rein. Sowas will ich mehr lesen!
Danke Christian! Der Text floss gestern förmlich aus mir wie der Käse aus dem Cordon Bleu. So wie früher. Herrlich!
Gänsehaut. Echt jetzt.
Lieber Mirko, ich nehme das einfach mal als Kompliment. Danke!
Sooooooooooo schön. Die Zellerau ist und bleibt halt einfach der beste Stadtteil. ♥
Auf jeden Fall! Einmal Zellerauer, immer Zellerauer!
*schnief*
Is nun schon 11 Jahre her, als wir aus dem verschrieenen Stadtteil weggezogen sind.
Und ich wette, du hattest auch eine gute Zeit dort!