Hairytale

„Darf ich Dich was fragen,“, fragt der beifahrende MamS im Auto und schiebt ein ängstliches „ohne dass Du ausflippst?“ hinterher. „Klar, nur zu!“, antworte ich angespannt. Er ist noch rücksichtsvoller geworden in der letzten Zeit, der Ärmste, denn an manchen Tagen ist mit dem nordkoreanischen Dickerchentator besser Kirschen essen als mit mir.
„Dir wächst da ein Haar am Kinn. Ein langes. Darf ich Dir das nachher abschneiden?“, erkundigt sich der MamS, während ich tief durchatme.
Es ist ja wahr. Beim morgendlichen Schminkritual, das bald immer länger dauert, entdeckte ich doch bei genauem Hinsehen einen anklagenden Bewuchs, der am Haupt eines Neugeborenen passend ist, nicht aber am Kinn einer ausgewachsenen Frau.
Meine Hände umklammern das Lenkrad. „Klar!“, sage ich lässig. „Ich weiß, dass mir Haare im Gesicht wachsen.“, und wundere mich selbst über meine kurzfristige, buddhaeske Gelassenheit. „Weißt du, das liegt an den Hormonen. Mein Körper bildet gerade mehr Testosteron und weniger Östrogen. Das bedeutet, ich werde immer männlicher und aggressiver und furze demnächst wie ein Bierkutscher und überhaupt, willst was aufs Maul?“, scherze ich oder was ich halt für einen Scherz halte.
„Aha“, sagt der MamS.

Wieder zuhause holt der MamS den Haarschneider und ich tue meine Meinung kund, dass er ja wohl was an der Waffel hat und sich mit dem Teil mal ganz schnell verzupfen soll. Für dieses eine Haar soll ja wohl eine Nagelschere reichen und ob er denn nun völlig durchgeknallt ist?
Mit Engelszungen spricht der MamS und meint, dass dann doch alles erstmal weg ist und ich überlege, dass ich erst nächste Woche in den Katakomben wieder an chemischen Gesichtsenthaarer komme und stimme schließlich zu. Erniedrigter und ausgelieferter als in diesem Moment, als er den Apparat unter Summen über mein Kinn schob, fühlte ich mich nur, als mir die Schwester bei der letzten OP den Blasenkatheter mit der gefühlten XL-Charrière in den Pipischlauch schob. Ich verfluchte alle Hormone und das Unheil, das sie bringen, wenn frau ins Klimakterium fällt. Ja, es gibt nichts zu beschönigen: Ich befinde mich an der Schwelle zur Pubertät des Alters und Haare an Stellen, wo sie nicht hingehören, sind erst der Anfang.

Ob ich ihm denn kurz helfen könnte, ihn störe da etwas, bat der MamS später am Tag und reichte mir die Nagelschere. Mit sicherer Hand und der inzwischen unvermeidlichen Lesebrille entfernte ich ihm ein Haar aus der Augenbraue, weiß wie geschmolzenes Silber und mit sicher einem halben Zentimeter Länge. Ich betrachtete es versonnen. Ist es etwa das? Dieses „gemeinsam alt werden“? Sich gegenseitig unerwünschte Behaarung vom Körper zu entfernen? Ja, das ist es wohl. Und ich fürchte, es ist nur der Anfang.

Oh. Himmel hilf!
moggadodde

Dieser Eintrag wurde in Daily Soap veröffentlicht.

2 commenti su “Hairytale

  1. Wortmischer sagt:

    Schon lang nicht mehr so gelacht. Allerdings bleibt die Frage: Wieso hat er nicht die Pinzette genommen? Damit mach ich immer dieses eine Barthaar weg, das als vollkommener Einzelgänger links von meiner Nasenspitze aus dem Apfelbäckchen wuchert. Seit 20 Jahren alle paar Monate einmal. Danach fühle ich mich wieder symmetrisch ;-}

    • moggadodde sagt:

      Pinzette? Nein! Das tut doch weh! Ich hatte kürzlich erstmals das zweifelhafte Vergnügen an meinen Augenbrauen. Die Friseurin ließ sich nicht abbringen. Ich überlebte, aber knapp und könnte das selbst mir nie antun. Respekt, Herr Wortmischer!

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