Zu den unangenehmsten Aufenthaltsorten überhaupt zähle ich neben einem Plumpsklo am Straßenstrich hinter der tschechischen Grenze oder Rambos blutegelverseuchtem Foltertümpel in Vietnam die Warteräume von Medizinern. In Orthopäden-, Chirurgen-, Hautarzt- und auch Radiologenwartezimmern bin ich nicht so empfindlich, weil dort ganz einfach die Infektionsgefahr fast gegen Null geht.
Einige, viel zu lange Jahre war die Kinderarztpraxis für mich wartezimmertechnisch der Vorhof zur Hölle. Zuvorderst bin ich heilfroh, dass ich in diesem Leben nie wieder einen Fuß in einen wahnwitzig überhitzten Kinderarzt-Warteraum setzen muss, wo dir dauernd kleine, verschnupfte, fiebrig-rotbackige Teppichratten mit schokoladeverschmierten Pranken zwischen den Beinen herumkrabbeln, wo du permanent Gefahr läufst, einen Holzklotz an die Rübe geworfen zu kriegen oder dass irgendein Knirps sein Gesicht an deiner Hose abputzt, nachdem die lustige Rotzblase an seiner Nase beim Ausatmen immer wieder auf Standardhandballgröße angewachsen ist.
In der ganzen Praxis ist es ohrenbetäubend laut, die Kurzen brüllen wie am Spieß vor Angst oder Schmerz oder Langeweile oder Nervosität oder was auch immer, das weiß man bei kleinen Kindern ja oft nicht und es stinkt überall nicht nur unterschwellig nach zum Bersten voller Windel und durch die Hitze sauer gewordene Milch.
Der ziemlich zerfetzte Lesezirkel pappt beim Blättern an den Händen und jeder Versuch, ein Fenster wenigstens zu kippen, wird von den bissigen, überbesorgten Muttertieren mit bitterbösen Blicken quittiert und unterbunden. Ein Besuch bei dem Vernehmen nach hochqualifizierten Pädiater in der Innenstadt kann schon mal einen halben Arbeitstag dauern, zerrt an den Nerven wie ein schauerlicher Zombiefilm und ist das allerschlimmste, was Vati oder Mutti passieren kann. Ein Besuch beim Kinderarzt ist wie ein verfluchter Höllenritt mitten durchs Fegefeuer. Aber Eltern sind ja leidensfähig, sonst wären sie keine.
Wie gesagt, aus dem Kinderarztalter sind Dixie und Hank jetzt raus. Nachgerückt in das Spitzenfeld der schlimmsten Aufenthaltsorte auf diesem Planeten ist jetzt das Wartezimmer eines Allgemeinarztes, wo ich mit meiner Erstgeborenen gestern einsitzen musste.
Dixie, die manchmal ein wenig auf der Hysterikerschiene in Richtung Hypochonder fährt, fühlte sich unwohl und vermutete wegen ihrer seit Freitagnacht gehäuft auftretenden Kopfschmerzen schon einen Hirnschlag, wenn nicht Schlimmeres. Die Frage, vor der sich alle Eltern fürchten, die aber irgendwann unweigerlich ansteht, musste deshalb von mir gestern erstmals gestellt werden: „Haste was genommen bei der Fete am Freitag?“. Dixie verneinte vehement und ich will glaube ihr auch. Ich meinte, sie solle einfach einen Tag im Bett bleiben, hübsch ein paar Pillen schlucken und morgen sehe das alles bestimmt schon wieder ganz cremig aus. Sie bestand aber darauf, sich einem Arzt vorzustellen.
So saßen wir also am späten Nachmittag in dem Wartezimmer, zunächst allein. Nach und nach tröpfelten weitere Patienten ein und mit jedem sah ich mehr Bakterien und Viren durch die helle und äußerst unvorteilhafte Beleuchtung des Raumes schwirren. In diesem Licht sähe sogar Herr Obama so ungesund aus wie das Gespenst von Canterville.
Aus der linken Ecke bellte jetzt ein trockener, irgendwo im Kehlkopfbereich beheimateter Husten, die Frau im dicken Norweger gegenüber nieste in 3-Minuten-Intervallen ins Neue Blatt auf ihrem Schoß und aus der halbrechten Ecke gesellte sich noch ein äußerst locker sitzender Husten dazu, der bei jedem Anfall eine große Menge Lungenbutter nach oben beförderte, die von seinem Übergangsbesitzer deutlich gekaut und dann wieder in bronchiale Abgründe befördert wurden. Das ist eklig? Ja, das finde ich auch.
Den Gipfel des Grauens aber bildete das Bazillenmutterschiff mit Schnupfennase und drei orgelpfeifigen Apfelbackenkindern im Schlepp. Zugegeben, die Kleinen saßen recht matt auf ihren Stühlchen neben mir und gaben fein Ruhe, während Mami in ihre pulloverne Ellenbeuge hustete, was ich ja immerhin noch hygienischer finde, als die Hand vor dem Mund. Plötzlich klingelt das Telefon des Muschiffs und sie gibt ihrem Gatten Auskunft, dass sie sich beim Arzt befindet. Es muss ihr Gatte sein, denn sie deckt ihn gleich mit Einkaufsaufträgen ein. Der Kinderarzt (ja, sie nannte genau den in der Innenstadt, bei dem ich mit Dixie in früher Kindheit auch war) habe heute geschlossen. Ach, und ich dachte, sie sei die Patientin. Naja, egal. Plauderplauderplauder. Bis auf das trockene und das feuchte Husten aus den Ecken und das Niesen der Norwegerfrau herrscht Ruhe und jeder hört dem Telefonat zu, obwohl jeder so tut als wäre er unheimlich in seine Blättchen vertieft. Jetzt verkündet das Muschiff laut ihrem Gatten, dass sie nämlich stark annehme die Kinder hätten Scharlach und dass der Allgemeinarzt den Scharlach-Test schließlich auch machen könnte. Wie bitte? Scharlach? Neben mir? Ich glaub’ es hakt!
Als wäre hier die Hauptversammlung der fränkischen TBC-Kranken nicht genug, schleppt die Frau hier auch noch drei Streptokokkenverdachtsfälle ein? Na super!
Ich wechsle mit Dixie vielsagende Blicke, versuche möglichst flach zu atmen und überlege ernsthaft, ob wir nicht vor der Tür warten sollen, aber es ist kalt draußen, da holt man sich ja erst recht noch den Tod!
Endlich hat die Sprechstundenhilfe aber nun ein Einsehen und holt uns, die wir äußerlich keine Krankheitszeichen aufweisen in ein Besprechungszimmer, wo der Doktor bei Dixie natürlich nichts feststellen kann, ein bisschen Paracetamol empfiehlt und noch einen Tag ohne Schule, aber den Zahn kriegt sie schon auf der Heimfahrt von mir gezogen.
Bei einem Chirurgen, Orthopäden, Radiologen, Hautarzt oder erst recht auch Urologen bin ich, wenn schon, viel lieber. Da kommt man in der Regel nämlich nicht noch kränker raus, als man reingegangen ist.
Euch einen gesunden Tag wünscht
moggadodde